Wir plädieren gegen Carbonplatten in Laufschuhen

Die Ständige Impfkommission (STIKO) wägt Vorteile und Risiken von Impfstoffen gegeneinander ab. Würde sie dies auch für technische Innovationen in Laufschuhen wie beispielsweise Carbonplatten tun, stünden einige Modelle vielleicht nicht in den Regalen der Fachhändler.

Die gerade zu Ende gegangenen Olympischen Spiele in Tokio waren nicht nur ein Aufgebot an Top-Athleten, die Unglaubliches leisteten. Es war auch ein unglaubliches Aufgebot an Technik. Nachdem Karsten Warholm bei seinem 400-Meter-Hürdenlauf mit 45,94 Sekunden die 46-Sekunden-Schallmauer durchbrochen hatte und den bisherigen Weltrekord gleich mit 76 Hundertstel pulverisierte, sagte er zur Freude seines Ausstatters Puma in die Mikrofone der versammelten Weltpresse: "Der Schuh hilft mir, länger Energie zu haben."

"Das Geheimnis der Rekordflut von Tokio", titelte danach die "Welt". Und im “Kölner Express” war zu lesen: "Leichtathletik-Weltrekorde dank Wunder-Schuh?" Die "Energie", von der Warholm spricht, kommt von einer dünnen Platte aus Carbon, die sich leicht gebogen durch die gesamte Mittelsohle zieht. Schon 2017 präsentierte Nike mit dem “Vaporfly 4%” einen neuartigen Laufschuh mit Carbonplatte, der den ersten Marathonlauf in weniger als zwei Stunden möglich machen sollte. Nur zwei Jahre später wurden 86 Prozent der Podiumsplätze bei den sechs World Marathon Majors von Läufern erobert, die einen Nike Vaporfly mit Carbonplatten in der Mittelsohle trugen.

Das Gesetz der Hebelwirkung auf Laufschuhe adaptiert

Tatsächlich steckt hinter der Idee von Nikes Chef-Entwickler Matt Nurse, eine Carbonplatte in einem Laufschuh zu verbauen und den Läufern damit zu neuen Bestzeiten zu verhelfen, reine Physik. Im Kern geht es darum, in der Antriebsphase möglichst wenig mechanische Energie zu verschwenden. Zuvor hatte einer der anerkanntesten Biomechaniker weltweit, Benno M. Nigg, zusammen mit weiteren Kollegen in einer Studie nachgewiesen, dass von den Mittelfußknochen in der Antriebsphase wesentlich mehr Energie absorbiert als produziert wird. Andere Gelenke wie Fußgelenk, Knie oder Hüfte generieren hingegen mehr Energie als sie verbrauchen.

 
Hier anzusetzen, um die Performance der Läufer zu verbessern, macht absolut Sinn. Die steife Carbonplatte im Schuh verlängert in der Antriebsphase den Hebel, verhindert, dass sich die Zehen nach oben biegen (Dorsiflexion) und vermeidet damit unnötigen Energieverlust. Das Problem ist nur: Jeder Läufer ist anders. Die beiden Kinesiologen Darren Stefanyshyn und Ciro Fusco kamen in einer Studie zu dem Schluss, dass eigentlich jeder Läufer abhängig von Gewicht, Größe und Kraft ein anderes Maß an Versteifung benötigt, um persönliche Bestzeiten zu erreichen. Bei manchen Läufern hatten die Carbonplatten sogar komplett negative Auswirkungen.

Nur 1 Prozent der Läufer müssen 4 Prozent schneller laufen

Fast noch wichtiger ist aber: 99 Prozent der Läufer sind überhaupt keine Profiläufer. Sie laufen in ihrer Freizeit, um sich und ihrem Körper etwas Gutes zu tun - und nicht, um eine persönliche Bestzeit nach der anderen zu übertreffen. Doch wer sagt schon nein, wenn die Laufschuhindustrie einem suggeriert: Nutze dieses Performance Enhancing Element - und werde vier Prozent schneller. Dass dieses technische Doping auch Gesundheitsrisiken mit sich bringt, wird hingegen aus keiner Marketingabteilung zu hören sein.

Dabei hat Mutter Natur mit dem menschlichen Fuß ein wahres Meisterwerk an Ingenieurskunst hingelegt. Man muss sich den Fuß als eine Art verdrehte, federartige Platte vorstellen, an der vorne die Zehen befestigt sind, um die Platte am Boden zu verankern. Wenn der Fuß den Boden berührt, dreht sich die Platte auf und verlängert sich, um den Aufprall zu absorbieren, wodurch die Plantarfaszie die Zehen in den Boden zieht (umgekehrter Ankerwindenmechanismus), den Fuß verankert und eine stabile Basis bietet. Wenn das Gewicht des Läufers über den Fuß zu wandern beginnt, hebt sich die Ferse vom Boden ab, wobei die Zehengelenke als Drehpunkte verwendet werden (der Ankerwindenmechanismus). Jetzt sind die Zehen dran, an der Plantarfaszie zu ziehen, wodurch das Fußgewölbe angehoben und der Fuß verdreht und verkürzt wird, um eine straffere, steifere Feder zu werden, die sich auf die wichtige Abstoßphase beim Laufen vorbereitet. Es ist fast so, als würde sich der menschliche Fuß in eine eigene steife Carbonplatte verwandeln, wenn mehr Vortriebskraft benötigt wird.

Ein altes Sprichtwort sagt: Use it or lose it

In dieses Meisterstück von Mutter Natur greift nun die Schuhindustrie ein. Mit dem Vorsatz, Verletzungen zu vermeiden, entwickelt sie Innovationen, die Verletzungen gerade erst entstehen lassen. So hat der renommierte Harvard-Professor Daniel E. Liebermann zusammen mit Kollegen analysiert, wie die Zehensprengung die Zehenmuskulatur außer Kraft setzt und dadurch das Verletzungsrisiko steigert. Dieser Effekt lässt sich tagtäglich auf der Straße an Sneaker-Besitzern beobachten: Weil die Läufer über die Großzehe nicht mehr abrollen können, vermeiden sie dieses Drehmoment, das eigentlich über den großen Zeh gehen sollte, indem sie ihren Fuß nach außen drehen und deutlich überpronieren.

Und was macht die Industrie? Sie baut eine Carbonplatte in die Mittelsohle, damit die Läufer ihre Zehenmuskulatur nicht mehr benutzen müssen. Der Fuß ist damit mehr oder weniger in eine Richtung eingegipst, was dazu führt, dass Wadenmuskulatur und Achillessehne keine Aufgabe mehr haben und immer schwächer werden. Diese Situation ist nahezu paradox.

Dabei ist der Körper eigentlich eine feingetunte Maschine, die keine Unterstützung braucht. Sobald der Mensch an einer Stelle eingreift, bringt er den ganzen Mechanismus durcheinander, was irgendwann zu erhöhtem Verletzungsrisiko führt. "Use it or lose it" heißt eine Redewendung, die im Sport häufig bemüht wird. Zumindest die vielen Hobby- und Freizeitläufer sollten dem "Use it" den Vorzug geben - und ihre Schuhe sollten sie dabei unterstützen.