Haltungstraining und Laufverletzungen – die einfache Lüge und die komplexe Wahrheit
Der Anteil der laufbedingten Verletzungen liegt jährlich zwischen 30 % und 80 %, wobei das Knie dabei am häufigsten betroffen ist (van Gent et al., 2007). Diese Prävalenz hat zu der Suche nach möglichen Mechanismen und Lösungen geführt.
Eine kürzlich durchgeführte Studie mit Langstreckenläufer-Neulingen (Chan et al., 2017) bietet ein hervorragendes Beispiel, wie die Vorteile eines Haltungstrainings zugunsten der Verringerung von Verletzungen überbewertet / zu sehr vereinfacht werden können. Bei einem soliden Forschungsaufbau wurden 320 Laufanfänger nach einer anfänglichen Bewertung der Auswirkungseigenschaften auf einem kraftmessenden Laufband zufällig zu einer Haltungstrainings- oder zu einer Kontrollgruppe zugewiesen.
Die Haltungstrainingsgruppe hatte zwei Wochen lang vier Einheiten pro Woche, bei der sie auf einem kraftmessenden Laufband lief, das visuelles Feedback zur Aufprallkraft gab. Sie wurden angeleitet, „weicher aufzukommen“, um die Aufprallspitze bei der Kraftkurve zu reduzieren oder zu eliminieren.
Die Kontrollgruppe verbrachte genauso viel Zeit auf dem Laufband, aber ohne Feedback oder Anleitung. Beide Gruppen wurden nach zwei Wochen erneut untersucht und in den kommenden 12 Monaten wurde festgehalten, ob Verletzungen aufgetreten sind. Durch die Haltungstrainingschulung wurde die Belastungsrate verringert, wohingegen sich die Belastungssteuerung nicht veränderte oder verschlechterte. Die Verletzungsrate in den folgenden 12 Monaten lag in der Haltungstraininsgruppe bei 16 % und in der Kontrollgruppe bei 38 %. Dies entspricht einer Verringerung des Verletzungsrisikos insgesamt um 62 % durch Haltungstraining.
Vereinfachte Darstellung der in der Kontrollgruppe und der umgeschulten Gruppe mit Haltungstraining beobachteten Lauftechnik.
Die Ergebnisse sind beeindruckend. Aber die Wahrheit ist wie immer viel komplexer. Es gab erhebliche Unterschiede, wo die Verletzungen in den beiden Gruppen auftraten. Die Beschwerden über Knieschmerzen in der Kontrollgruppe (29 %) waren doppelt so hoch wie bei der Haltungstrainingsgruppe (14 %). Im Gegenzug betrafen 47 % der Verletzungen der Haltungstrainingsgruppe das untere Bein, verglichen mit 1 % in der Kontrollgruppe.
Durch die Haltungsanpassung wird die Belastung einfach auf andere Strukturen verschoben und/oder die Absorptionszeit wird verlängert, wodurch sich die Belastungsrate verringert. Während diese Anpassung für manche Gelenke und Gewebe hilfreich ist, ist es für andere Bereiche, die nicht darauf vorbereitet oder nicht trainiert sind, anstrengender und schädlich. Das ist die komplexe Wahrheit des Haltungstrainings.
Man sollte berücksichtigen, dass die Stabilität und Elastizität des Fußes ein wichtiger Ausgangspunkt beim Ermitteln von Belastungen für die darüber liegenden Gelenke und Muskeln sind. Dennoch wurde diese Tatsache in dieser und allen anderen Haltungstrainingsstudien außer Acht gelassen.
Autor:
Dr. Mick Wilkinson, PhD, MSc, BA (Hons)
Northumbria University, Newcastle, England
Senior Lecturer in Sport and Exercise Science & Department Ethics Lead
Literaturhinweise:
- Chan, Z. Y. S., Zhang, J. H. W., Au, I. P. H., An, W. W., Schum, G. L. K., Ng, G. Y. F., & Cheung, R. T. H. (2017). Gait retraining lowers injury risk in novice distance runners: a randomized controlled trial. American Journal of Sports Medicine. doi:AMJSPORTS/2017/221127.
- van Gent, R. N., Siem, D., van Middlekoop, M., van Os, A. G., Bierma-Zeinstra, S. M. A., & Koes, B. W. (2007). Incidence and determinants of lower extrameity running injuries in lonmg distance runners: a systematic review. British Journal of Sports Medicine, 41, 469-480.